Micheline Calmy-Rey über die Ukraine-Konferenz, Gaza und die Bilateralen (2024)

Interview

Micheline Calmy-Rey ist eine genaue Beobachterin der Geopolitik. Die frühere Aussenministerin lobt die Rolle der Schweiz bei der Ukraine-Konferenz, kritisiert Israel – und sagt, wie eine Einigung mit Brüssel über die bilaterale Zukunft gelingen kann.

Marc Tribelhorn, Simon Hehli

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Micheline Calmy-Rey über die Ukraine-Konferenz, Gaza und die Bilateralen (1)

Frau Calmy-Rey, letztes Wochenende ging auf dem Bürgenstock die Ukraine-Konferenz über die Bühne. Haben Sie als ehemalige Aussenministerin mitgefiebert?

Natürlich. Ich möchte Ihnen aber zuerst eine andere Geschichte erzählen, die über den Bürgenstock hinausgeht. Ich bin gerade von zwei Reisen zurückgekehrt. Zuerst war ich als Sondergesandte der Frankofonie in Madagaskar, danach in Kosovo. Auch in diesen Staaten zeigen sich die geopolitischen Verwerfungen, über die in der Schweiz verhandelt wurde. In Madagaskar mischt die berüchtigte Wagner-Gruppe mit, und damit Russland. Auch China ist sehr präsent. In Kosovo versucht der Kreml schon lange, via Serbien Unruhe zu stiften. Der Westen ist heute generell schlechter positioniert in der Welt als noch vor einem Jahr.

Umso wichtiger, dass in der Schweiz über Krieg und Frieden gesprochen wurde. Sind Sie zufrieden mit den Resultaten?

Ich bin sehr zufrieden, dass die Schweiz die Initiative ergriffen hat. Sie hat probiert, Einfluss auf die Weltpolitik zu nehmen, sie hat sich aus der Komfortzone hinausgewagt. Und man kann sagen: Wir sind tadellose Hoteliers gewesen. Es wurde mit dieser Konferenz versucht, eine Grammatik des Friedens zu formulieren, die von der Staatengemeinschaft wahrgenommen und diskutiert wird. Leider gab es keinen Konsens über die nächsten Schritte, etwa eine Nachfolgekonferenz.

Die Bürgenstock-Deklaration betont zwar die territoriale Integrität der Ukraine als Grundlage eines künftigen Friedens. Aber nur 78 Staaten haben sie unterzeichnet, wichtige Länder des globalen Südens lehnten sie ab.

Es gab zumindest eine Abschlusserklärung. Die Position der Ukraine wurde gestärkt. Aber Sie haben recht, es wurden zu hohe Erwartungen geschürt, auch von der Schweiz. Fakt ist leider: Der Krieg in der Ukraine geht unvermindert weiter. Die Vorstellungen der Kriegsparteien liegen maximal auseinander. Die Schweiz muss aktiv bleiben. Weiter auch mit den Russen sprechen, um sie dereinst an den Verhandlungstisch zu bringen. Und natürlich ebenso mit den Verbündeten Moskaus, damit diese auf den Frieden hinwirken.

«Weiter» mit den Russen reden? Die Schweiz hat Russland gar nicht auf den Bürgenstock eingeladen.

Ja, das war ein Fehler. Ich bin überzeugt, dass das im Debriefing im Aussendepartement ein grosses Thema sein wird. Es wird jetzt argumentiert, dass die Russen sowieso nicht gekommen wären – wie sie es ja auch mehrfach betont haben. Aber man hätte eine Einladung nach Moskau schicken müssen. Das hätte den Vorwurf entkräftet, die Schweiz tanze nur nach der Pfeife der Ukraine und ihrer Verbündeten.

Sind wir noch neutral?

Wir handeln genau so, wie wir es seit dem Irak-Krieg Anfang der 1990er Jahre taten. Die Schweiz hat immer Sanktionen mitgetragen, die vom Uno-Sicherheitsrat beschlossen wurden, auch solche der EU. Das weiss der russische Aussenminister Sergei Lawrow ganz genau. Ich hatte früher viel mit ihm zu tun, er kennt die Position der Schweiz. Würden wir auf die Sanktionen verzichten, machten wir uns mit Russland gemein – würden also für Putin Partei ergreifen.

Macht die Schweiz genug zur Unterstützung der Ukraine?

Wir müssen sicher keine Waffen in ein Kriegsgebiet liefern. Aber wir sollen uns nützlich machen, gerade mit der Förderung des Dialogs. Und wir müssen uns dafür einsetzen, dass das internationale Recht von allen respektiert wird, dass nicht mit Angriffskriegen Tatsachen geschafft werden – gerade in Zeiten, in denen der Multilateralismus erodiert. Wir sind zudem Depositarstaat der Genfer Konventionen, die den Kern des humanitären Völkerrechts bilden. Beim Schutz der Zivilbevölkerung habe ich die Stimme der Schweiz noch zu wenig gehört – übrigens auch im Gaza-Krieg.

Die Neutralität war immer ein Konzept, um unsere Sicherheit zu gewährleisten. Nun gibt es Stimmen, die ein offensiveres Eintreten für die Ukraine fordern, weil dort Europas Sicherheit – und damit auch unsere Sicherheit – verteidigt wird.

Unsere Neutralität ist eine bewaffnete. Das heisst, unsere Armee muss verteidigungsfähig sein. Dafür braucht sie genügend Mittel. Aber wie weit wollen wir gehen? Ich bin für eine verstärkte sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit unseren Partnern in Europa und in der Nato. Die Stichworte lauten Interoperabilität und Partnership for Peace. Das kollidiert nicht mit unserer Neutralität. Aber es wird eine Gratwanderung sein.

Sie haben als Aussenministerin eine «aktive Neutralität» propagiert. Jetzt will die SVP die strikte integrale Neutralität mit einer Initiative in der Bundesverfassung verankern...

...ach, die alte Isolationsstrategie der SVP. Die Welt hat sich längst weitergedreht. Wir sind wirtschaftlich eine Grossmacht, wir können nicht abseitsstehen bei Sanktionen, sonst werden wir zum Zentrum von Umgehungsgeschäften. Aber das ist ja gerade das Ziel von mon cher ami Blocher: Für ihn ist die Neutralität ein Businessplan. Ich habe keine Angst vor dieser Initiative, sie bringt eine Klärung. Eine Annahme würde der Schweiz unnötig Fesseln anlegen.

Seit neun Monaten herrscht Krieg in Gaza, nachdem Hamas-Terroristen nach Israel eingedrungen sind und ein Blutbad angerichtet haben. Sie hatten sich einst mit der Genfer Initiative stark für den Friedensprozess und die Zwei-Staaten-Lösung engagiert. Wie frustrierend ist es, dass alles umsonst war?

Es ist eine Tragödie. Wir hatten im Rahmen der Genfer Initiative damals einen 500-seitigen Bericht verfasst. Als ich ihn der amerikanischen Aussenministerin Hillary Clinton überreichte, bedankte sie sich: «Sie haben unsere Hausarbeiten gemacht!» Leider ist dann nicht mehr viel passiert. Heute bin ich aber überzeugt, dass die Elemente, die wir ausgearbeitet haben – Status von Jerusalem, Rückkehr der Flüchtlinge, Sicherheit Israels –, eine Rolle spielen werden, wenn es zu Verhandlungen kommt.

So positiv?

Die Genfer Initiative enthält die Elemente einer Lösung. Wahr ist jedoch auch: Die israelische Siedlungspolitik im Westjordanland hat eine Zwei-Staaten-Lösung schwierig gemacht. Vielleicht müssten wir vielmehr über eine Konföderation nachdenken? Hier könnte die Schweiz einiges beitragen, mit ihrem multikulturellen Hintergrund. Aber solange die Waffen sprechen, ist ein solches Modell undenkbar. Nun regiert der Hass auf beiden Seiten. Und er wird leider die nachfolgenden Generationen prägen.

Sie haben sich als Aussenministerin für einen Dialog mit der Hamas eingesetzt. War das im Rückblick naiv, ein grosser Irrtum?

Unsere Strategie war es, mit allen Parteien im Nahostkonflikt zu sprechen, auch wenn wir ihre Positionen nicht teilen. Die Hamas war in Gaza an die Macht gekommen, auch Israel pflegte mit ihr den Dialog, sah in ihr ein Gegengewicht zur Palästinensischen Autonomiebehörde, die stark an Legitimität eingebüsst hatte. Es war eine andere Zeit! In der Hamas hatten noch moderatere Kräfte etwas zu sagen.

Kurz nach dem Massaker der Hamas vom 7.Oktober sagten Sie: «Die israelische Regierung ist gezwungen, sehr stark und militärisch zu reagieren.» Der Einsatz der Armee läuft noch immer.

Die Reaktion war richtig angesichts des Terrors. Aber sie hat viel zu viel Kollateralschaden gefordert, mit Tausenden toten Zivilisten. Und die Ziele – die Eliminierung der Hamas sowie die Rettung der verschleppten Geiseln – wurden nicht erreicht. Es ist mir nicht klar, wie die Exit-Strategie von Benjamin Netanyahu für Gaza aussehen soll. Das hat auch unter den Israeli Kritik hervorgerufen. Ganz zu schweigen von den internationalen Protesten. Die Militäraktion ist für die Netanyahu-Regierung zu einer Falle geworden. Sie schadet der Glaubwürdigkeit Israels.

Der Gaza-Konflikt weckt auch in der Schweiz starke Emotionen – gerade bei jungen Linken. Können Sie als Sozialdemokratin nachvollziehen, dass manche von ihnen Universitäten besetzen?

Es waren Enkelinnen von mir an den Manifestationen, es lief alles ruhig und friedlich ab, bis ein paar Provokateure auftauchten. Ich nahm an einem Vortrag an der Uni Genf teil. Da gab es zehn Demonstranten, die aufstanden und Palästina-Flaggen hochhielten. Nach fünf Minuten sind sie freiwillig wieder gegangen. Die Unis sind Orte der freien Meinungsäusserung. Muss wegen solcher Aktionen die Polizei intervenieren? Ich finde nicht.

Sie unterschlagen den antisemitischen Charakter mancher Proteste an den Unis.

Der Antisemitismus, der sich im Zusammenhang mit dem Gaza-Konflikt zeigt, macht mir grosse Sorgen. Und ich finde auch die Forderung nach einem Boykott israelischer Universitäten grundfalsch. An den dortigen Instituten gibt es viele Leute, die nicht einverstanden sind mit Netanyahu. Man darf niemals «die Juden» für dessen Politik verantwortlich machen. Aber umgekehrt darf man auch nicht alle Kritik an der israelischen Regierung als antisemitisch abtun.

In der Wahrnehmung des Nahostkonflikts zeigt sich ein Röstigraben. Israelkritische Positionen sind in der Romandie viel verbreiteter. So wurde der Entscheid aus Bundesbern, dem umstrittenen Palästinenserhilfswerk UNRWA die Gelder zu kürzen, gar nicht gut aufgenommen.

Wir haben mit Genf ein wichtiges Zentrum der Menschenrechte und der humanitären Hilfe – Stichwort Genfer Konventionen. Das liegt den Menschen am Herzen. Die UNRWA ist eine humanitäre Organisation, die in dieser langen Tradition steht.

Gegen die UNRWA wurden schwere Vorwürfe laut: Sie verbreite Schulbücher mit antisemitischem Inhalt, und sie unterstütze den Terror der Hamas. Gibt Ihnen das nicht zu denken?

Hinter der Kritik an der UNRWA steckt auch Propaganda. Es hat eine internationale Untersuchung der Vorwürfe gegeben, worauf verschiedene EU-Staaten ihre Finanzierungsstopps nochmals überdachten. Das sollten wir auch tun. Zu den Trümpfen der Schweiz gehört die humanitäre Hilfe. Wir sind ein reiches Land, wir müssen mindestens so viel tun wie die anderen, wenn nicht mehr. Natürlich sollte man genau schauen, was mit den Geldern passiert. Aber sie massiv zu kürzen, das ist angesichts des humanitären Leids in Gaza ein schwerer Fehler.

Ist es sinnvoll, dass der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs Haftbefehle nicht nur gegen die Hamas-Führung beantragt hat, sondern auch gegen den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu und Verteidigungsminister Yoav Gallant?

Der Ankläger macht seinen Job. Beide Seiten haben das humanitäre Völkerrecht verletzt, also muss man beide verfolgen – so wie der Gerichtshof auch gegen Putin vorgeht. Das heisst nicht, dass die Beschuldigten auf die gleiche Ebene gestellt werden.

Sprechen wir noch über Europa. Es ist 25 Jahre her, dass die Schweiz das erste Paket der bilateralen Verträge unterzeichnet hat. Wie sehen Sie das heutige Verhältnis der Schweiz zur EU?

Europa ist nicht mehr so attraktiv wie damals, als ich in die Politik eingestiegen bin, als ich für einen Beitritt zum EWR und später zur EU gekämpft habe. Das Zentrum der Union hat sich nach Osten verlagert. Die Deutschen und die Franzosen hingegen ziehen nicht mehr an einem Strang, Olaf Scholz und Emmanuel Macron sind angeschlagen, sind unter Druck der Rechts- und Linkspopulisten in ihren Ländern, wie die Europawahlen belegt haben. Die EU ist wirtschaftlich stark, aber politisch schwach, militärisch sowieso. Die Finnen und die Schweden sind nicht umsonst der Nato beigetreten.

Also ist es nicht dramatisch, wenn die Schweiz mit der EU kein neues bilaterales Vertragswerk abschliesst?

Ich habe mich immer stark für die Bilateralen eingesetzt. Aber es wird immer schwieriger, die Leute im Inland zu überzeugen. Nur ein Beispiel: Die Bauernproteste in Nachbarländern haben viele Bürger denken lassen, dass es schon besser sei, dass wir nicht in der EU seien und deren Regeln übernehmen müssten. Für mich ist nicht Abschottung die Lösung. Vor allem wenn die Neutralität unsere Sicherheit nicht mehr gewährleistet, dann hat das Konsequenzen: Wir müssten sehr ernsthaft den Beitritt zur EU und zur Nato prüfen.

Zunächst geht es um einen neuen Vertrag mit der EU: Wie können die Verhandlungen gelingen?

Entscheidend wäre, zuerst in der Schweiz einen Konsens zu finden über die strittigen Punkte – und erst danach in Brüssel zu verhandeln. Nur so hat man eine starke Verhandlungsposition. Leider machen wir das Gegenteil. Der Bundesrat müsste die Bevölkerung stärker von den Vorteilen eines neuen Vertrags mit der EU überzeugen.

Nur: Es geht uns weiterhin sehr gut – zu gut, um uns fester an die EU binden zu wollen.

Da haben Sie einen Punkt. Aber Europapolitik war schon immer schwierig. Wenn man die Schweizer beim Portemonnaie packt, kann es gehen. Wir sind pragmatische Leute. Ich bin bis in die tiefste Urschweiz gereist, um die Bilateralen II zu verteidigen. Und wir haben die Abstimmung 2009 klar gewonnen.

Ihre Nachfolger im Aussendepartement schickten lieber ihre Staatssekretäre vor, heute Alexandre Fasel. Fehlt es an Leadership?

In Staatssekretär Fasel habe ich grosses Vertrauen, ich habe lange mit ihm zusammengearbeitet. Er ist schlau. Aber das war nicht Ihre Frage. Ich verstehe, dass sich die Bundesräte zurückhalten, solange es so starke innenpolitische Differenzen im EU-Dossier gibt – etwa zwischen den Arbeitgebern und den Gewerkschaften. Aber ohne ein starkes Engagement der Landesregierung wird es niemals gelingen, eine Mehrheit für die Bilateralen III zu finden.

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